Brasilien als linke Utopie? Sozialer Fortschritt, politische Korruption und die Systemfrage

Die Popularität des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) mit Zustimmungswerten bis zu 80 Prozent mag für Kritiker des bestehenden politischen Systems Brasiliens befremdlich sein, für die meisten Brasilianer selbst war es aus sozialpolitischen Gesichtspunkten offensichtlich nur konsequent. Dies zeigt auch die Wahl Dilma Rousseffs, die als Präsidialministerin von Lula selbst zur Wunsch-Nachfolgerin erklärt und daraufhin auch prompt vom Volk zur Präsidentin ernannt wurde. Getragen wurde diese Nominierung durch ehemals sozioökonomisch Benachteiligte und breite Arbeiterschichten, welche von der Sozialpolitik da Silvas jahrelang profitierten.

Seit Lula da Silva und Dilma Rousseff als „Kronprinzessin“ das Präsidentenamt ausfüll(t)en hat sich viel verändert in Brasilien. Hier handelt es sich um einen Staat, in dem (manch einer würde anmerken „typisch lateinamerikanisch“) die Ungleichheit seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten eine stabile Mittelschicht undenkbar erscheinen lässt. Traditionell gibt es hier vor allem ein unten und oben, in dem gleichzeitig diese schreiende Ungleichheit und Ungerechtigkeit aber seit der Militärdiktatur von allen Präsidenten bisher ignoriert wurde. Und nun kommt dieser Prophet da Silva daher und setzt so viele Sozialprogramme auf, dass in wenigen Jahren ein Ruck durch Brasilien geht und sich nach 7 Jahren Amtszeit die Sozialstruktur grundlegend verändert hat. So erreicht gegenwärtig das von ihm eingesetzte „Bolsa Familia“ als soziale Grundsicherung rund ein Viertel aller Brasilianer, die absolute Armut wurde alleine von 2003 bis 2007 um 33, 4 Prozent gesenkt.

Auch im Kontext der internationalen Politik setzt Brasilien in den 2000er Jahren ein Zeichen für eine politische Praxis abseits des von westlichen Sozialdemokraten propagierten „Dritten Weg“ als Kolonialisierung sozialer Gerechtigkeitsgrundsätze durch neoliberale Effizienzstrategien (so z.B. durch die Labour-Regierung nach den Thatcher-Jahren oder auch durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder). Nach dem NSA-Abhörskandal trat Dilma Rousseff vor die Generalversammlung vor die Vereinten Nationen und verlangte vor der politischen Weltöffentlichkeit eine Entschuldigung von Barack Obama, nachdem sie einen geplanten Staatsbesuch in den USA abgesagt hatte. Im wirtschaftlichen Bereich wird eine lateinamerikanische Alternative in Form des Binnenmarktes MERCOSUR favorisiert, welcher als Gegen-Entwurf zum von den USA vorangetriebenen Freihandelsabkommen FTAA gilt und wohl gelten soll. In Verbindung mit der Union Südamerikanischer (UNASUR) gibt das dem Integrationsvorhaben eine politisch und wirtschaftlich weitaus linksgerichtetere Note als von den USA gewollt. Damit geht man auch auf die Ängste der brasilianischen Bevölkerung in Bezug auf eine drohende US-amerikanische Hegemonie ein. Gleichzeitig aber gibt es einen nicht zu unterschätzenden Unterschied zu den linkspopulistischen Regierungen wie in Venezuela oder in Bolivien. Denn demokratisch-institutionelle Vorkehrungen werden in Brasilien eben nicht systematisch destabilisiert und unter dem Präsidentenamt subsumiert und subvertiert. Um das Ziel einer „gerechteren Gesellschaft“ zu erreichen, werden vorgesehene demokratische Prozeduren genutzt. Das Projekt einer demokratischen Linken wird hier zumindest nicht völlig ad absurdum geführt. Das sieht man auch z.B. im Gegensatz zur venezolanischen Regierung unter Chavez, welche die Amtszeit des Präsidenten verlängerte und seine unbegrenzte Wiederwahl legalisierte. Dies wäre aber unter Lula da Silva durchaus im Bereich des Möglichen gewesen. Bei den oben genannten Zustimmungsraten allemal. Die gegenwärtige Führung der brasilianischen Nation beweist also, dass man wirtschaftliches Wachstum im Einvernehmen mit großen Programmen zur Investition in die Infrastruktur und breit angelegten sozialen Hilfsmaßnahmen auf den Weg bringen kann. Die Mär von der notwendigen Rationalisierung und Effizienzsteigerung aller gesellschaftlichen Bereiche unter neoliberalen Vorzeichen, wie sie heutzutage von vielen Staaten der Welt im Sinne einer notwendigen Reaktion auf den „Sachzwang Globalisierung“ als alternativlos dargestellt wird, wird hier zumindest in Frage gestellt.

Also alles „perfeito“ in „Brasil“? Haben wir hier wirklich eine linke Utopie? Eine echte Alternative zum im westlichen Diskurs dominierenden Politikverständnis? Alleine schon weil das politische Brasilien keine abstrakte Idee, sondern ein konkret historisch-spezifischer Raum ist, gilt es hier zu relativieren. Auf die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung wurde in diesem Blog ja schon hingewiesen (siehe „Kanufahrende Indios und der brasilianische Staat – Eine kleine Bestandsaufnahme“). Des Weiteren destillieren sich die anstehenden Probleme der brasilianischen Gesellschaft in den Protesten im Juni 2013. Im Gegensatz zum öffentlich-medialen Bild haben sich diese Proteste eben nicht durch eine Fahrpreiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel und die Wut gegen baupolitische Maßnahmen für die WM 2014 zusammengefunden. Diese Ereignisse waren vielmehr das berühmte Zündlein an der Waage. Dem gingen nämlich langfristige Proteste verschiedenster Arbeitnehmerorganisationen im Bildungs- und Gesundheitsbereich voraus, sowie zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen das Problem der öffentlichen Sicherheit und zuvorderst gegen die seit Jahrzehnten grassierende Korruption im Land. Hier macht sich die umfassende Unzufriedenheit in breiten Schichten der Gesellschaft bemerkbar. Die als von vielen Politikern und Verwaltungseliten als völlig normal und unvermeidbar angesehene Korruption führt zu einem unvorstellbaren Vertrauensverlust in die demokratische Verfasstheit brasilianischer Eliten. Doch das Problem liegt eigentlich tiefer. Denn die Architektur des politischen Systems selbst ist besonders anfällig für dieses Patronage-System. In Brasilien herrscht ein Verhältniswahlrecht und jede Präsidentin und jeder Präsident muss sich eine fragile Koalition aus oft mehr als 10 Parteien zusammensuchen. Dies fördert Korruption, von ausgiebiger Ämtervergabe an Mitglieder verschiedener Parteien bis hin zu direkten Geldzahlungen in gar nicht mal so geheimen Briefumschlägen. Man erkauft sich demokratische Unterstützung und verliert damit gleichzeitig an demokratischer Legitimität.

Desto verwunderlicher die Reaktion von Rousseff auf die Proteste. In einer ambivalenten Bewegung, reagierte sie einerseits unmittelbar mit pfeffer-sprayender und knüppelnder Polizeigewalt, andererseits verstieg sie sich in einen hektischen Aktivismus, indem sie mit verschiedensten „Maßnahme-paketen“ auf Forderungen reagierte. Von diesen sind freilich die wenigsten bisher umgesetzt. Ob dies am Unwillen oder an der Unmöglichkeit der Durchsetzung durch beide Parlamentskammern liegt, bleibt strittig. So oder so, für das zukünftige Schicksal der gegenwärtigen Führung wird entscheidend sein, wie man auf weitere zivilgesellschaftliche Forderungen reagiert. Dabei zeigt die historische Vergangenheit seit dem Ende der Militärdiktatur Ende der 80er Jahre, dass das Zusammenspiel von brasilianischer Zivilgesellschaft und brasilianischer Politik funktionieren kann. In wichtigen Bereichen wie der AIDS/HIV-Bekämpfung, der Verminderung von Armut und der Veröffentlichung und Einhegung von Korruptionsskandalen hat diese Kooperation entscheidend zum gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt Brasiliens beigetragen. Behält man dies im Auge, dann ist Brasilien immer noch keine Utopie für Verfechter der linken und demokratischen Politik, kann aber bei einer Reformierung des politischen Systems als auch der politischen Kultur der Eliten hinsichtlich der Bekämpfung von Korruption als Modell dienen. Ob im positiven oder im negativen Sinne bleibt dann jedem selbst überlassen. Doch Alternativen zum bestehenden Fatalismus weltumspannender Ökonomisierungstendenzen können uns helfen uns selbst wieder klar darüber zu werden, wie denn eine Welt aussehen könnte, wenn uns die gegenwärtige noch veränderungswürdig erscheinen mag.

Quellen:

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