Brasilien als linke Utopie? Sozialer Fortschritt, politische Korruption und die Systemfrage

Die Popularität des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) mit Zustimmungswerten bis zu 80 Prozent mag für Kritiker des bestehenden politischen Systems Brasiliens befremdlich sein, für die meisten Brasilianer selbst war es aus sozialpolitischen Gesichtspunkten offensichtlich nur konsequent. Dies zeigt auch die Wahl Dilma Rousseffs, die als Präsidialministerin von Lula selbst zur Wunsch-Nachfolgerin erklärt und daraufhin auch prompt vom Volk zur Präsidentin ernannt wurde. Getragen wurde diese Nominierung durch ehemals sozioökonomisch Benachteiligte und breite Arbeiterschichten, welche von der Sozialpolitik da Silvas jahrelang profitierten.

Seit Lula da Silva und Dilma Rousseff als „Kronprinzessin“ das Präsidentenamt ausfüll(t)en hat sich viel verändert in Brasilien. Hier handelt es sich um einen Staat, in dem (manch einer würde anmerken „typisch lateinamerikanisch“) die Ungleichheit seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten eine stabile Mittelschicht undenkbar erscheinen lässt. Traditionell gibt es hier vor allem ein unten und oben, in dem gleichzeitig diese schreiende Ungleichheit und Ungerechtigkeit aber seit der Militärdiktatur von allen Präsidenten bisher ignoriert wurde. Und nun kommt dieser Prophet da Silva daher und setzt so viele Sozialprogramme auf, dass in wenigen Jahren ein Ruck durch Brasilien geht und sich nach 7 Jahren Amtszeit die Sozialstruktur grundlegend verändert hat. So erreicht gegenwärtig das von ihm eingesetzte „Bolsa Familia“ als soziale Grundsicherung rund ein Viertel aller Brasilianer, die absolute Armut wurde alleine von 2003 bis 2007 um 33, 4 Prozent gesenkt.

Auch im Kontext der internationalen Politik setzt Brasilien in den 2000er Jahren ein Zeichen für eine politische Praxis abseits des von westlichen Sozialdemokraten propagierten „Dritten Weg“ als Kolonialisierung sozialer Gerechtigkeitsgrundsätze durch neoliberale Effizienzstrategien (so z.B. durch die Labour-Regierung nach den Thatcher-Jahren oder auch durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder). Nach dem NSA-Abhörskandal trat Dilma Rousseff vor die Generalversammlung vor die Vereinten Nationen und verlangte vor der politischen Weltöffentlichkeit eine Entschuldigung von Barack Obama, nachdem sie einen geplanten Staatsbesuch in den USA abgesagt hatte. Im wirtschaftlichen Bereich wird eine lateinamerikanische Alternative in Form des Binnenmarktes MERCOSUR favorisiert, welcher als Gegen-Entwurf zum von den USA vorangetriebenen Freihandelsabkommen FTAA gilt und wohl gelten soll. In Verbindung mit der Union Südamerikanischer (UNASUR) gibt das dem Integrationsvorhaben eine politisch und wirtschaftlich weitaus linksgerichtetere Note als von den USA gewollt. Damit geht man auch auf die Ängste der brasilianischen Bevölkerung in Bezug auf eine drohende US-amerikanische Hegemonie ein. Gleichzeitig aber gibt es einen nicht zu unterschätzenden Unterschied zu den linkspopulistischen Regierungen wie in Venezuela oder in Bolivien. Denn demokratisch-institutionelle Vorkehrungen werden in Brasilien eben nicht systematisch destabilisiert und unter dem Präsidentenamt subsumiert und subvertiert. Um das Ziel einer „gerechteren Gesellschaft“ zu erreichen, werden vorgesehene demokratische Prozeduren genutzt. Das Projekt einer demokratischen Linken wird hier zumindest nicht völlig ad absurdum geführt. Das sieht man auch z.B. im Gegensatz zur venezolanischen Regierung unter Chavez, welche die Amtszeit des Präsidenten verlängerte und seine unbegrenzte Wiederwahl legalisierte. Dies wäre aber unter Lula da Silva durchaus im Bereich des Möglichen gewesen. Bei den oben genannten Zustimmungsraten allemal. Die gegenwärtige Führung der brasilianischen Nation beweist also, dass man wirtschaftliches Wachstum im Einvernehmen mit großen Programmen zur Investition in die Infrastruktur und breit angelegten sozialen Hilfsmaßnahmen auf den Weg bringen kann. Die Mär von der notwendigen Rationalisierung und Effizienzsteigerung aller gesellschaftlichen Bereiche unter neoliberalen Vorzeichen, wie sie heutzutage von vielen Staaten der Welt im Sinne einer notwendigen Reaktion auf den „Sachzwang Globalisierung“ als alternativlos dargestellt wird, wird hier zumindest in Frage gestellt.

Also alles „perfeito“ in „Brasil“? Haben wir hier wirklich eine linke Utopie? Eine echte Alternative zum im westlichen Diskurs dominierenden Politikverständnis? Alleine schon weil das politische Brasilien keine abstrakte Idee, sondern ein konkret historisch-spezifischer Raum ist, gilt es hier zu relativieren. Auf die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung wurde in diesem Blog ja schon hingewiesen (siehe „Kanufahrende Indios und der brasilianische Staat – Eine kleine Bestandsaufnahme“). Des Weiteren destillieren sich die anstehenden Probleme der brasilianischen Gesellschaft in den Protesten im Juni 2013. Im Gegensatz zum öffentlich-medialen Bild haben sich diese Proteste eben nicht durch eine Fahrpreiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel und die Wut gegen baupolitische Maßnahmen für die WM 2014 zusammengefunden. Diese Ereignisse waren vielmehr das berühmte Zündlein an der Waage. Dem gingen nämlich langfristige Proteste verschiedenster Arbeitnehmerorganisationen im Bildungs- und Gesundheitsbereich voraus, sowie zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen das Problem der öffentlichen Sicherheit und zuvorderst gegen die seit Jahrzehnten grassierende Korruption im Land. Hier macht sich die umfassende Unzufriedenheit in breiten Schichten der Gesellschaft bemerkbar. Die als von vielen Politikern und Verwaltungseliten als völlig normal und unvermeidbar angesehene Korruption führt zu einem unvorstellbaren Vertrauensverlust in die demokratische Verfasstheit brasilianischer Eliten. Doch das Problem liegt eigentlich tiefer. Denn die Architektur des politischen Systems selbst ist besonders anfällig für dieses Patronage-System. In Brasilien herrscht ein Verhältniswahlrecht und jede Präsidentin und jeder Präsident muss sich eine fragile Koalition aus oft mehr als 10 Parteien zusammensuchen. Dies fördert Korruption, von ausgiebiger Ämtervergabe an Mitglieder verschiedener Parteien bis hin zu direkten Geldzahlungen in gar nicht mal so geheimen Briefumschlägen. Man erkauft sich demokratische Unterstützung und verliert damit gleichzeitig an demokratischer Legitimität.

Desto verwunderlicher die Reaktion von Rousseff auf die Proteste. In einer ambivalenten Bewegung, reagierte sie einerseits unmittelbar mit pfeffer-sprayender und knüppelnder Polizeigewalt, andererseits verstieg sie sich in einen hektischen Aktivismus, indem sie mit verschiedensten „Maßnahme-paketen“ auf Forderungen reagierte. Von diesen sind freilich die wenigsten bisher umgesetzt. Ob dies am Unwillen oder an der Unmöglichkeit der Durchsetzung durch beide Parlamentskammern liegt, bleibt strittig. So oder so, für das zukünftige Schicksal der gegenwärtigen Führung wird entscheidend sein, wie man auf weitere zivilgesellschaftliche Forderungen reagiert. Dabei zeigt die historische Vergangenheit seit dem Ende der Militärdiktatur Ende der 80er Jahre, dass das Zusammenspiel von brasilianischer Zivilgesellschaft und brasilianischer Politik funktionieren kann. In wichtigen Bereichen wie der AIDS/HIV-Bekämpfung, der Verminderung von Armut und der Veröffentlichung und Einhegung von Korruptionsskandalen hat diese Kooperation entscheidend zum gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt Brasiliens beigetragen. Behält man dies im Auge, dann ist Brasilien immer noch keine Utopie für Verfechter der linken und demokratischen Politik, kann aber bei einer Reformierung des politischen Systems als auch der politischen Kultur der Eliten hinsichtlich der Bekämpfung von Korruption als Modell dienen. Ob im positiven oder im negativen Sinne bleibt dann jedem selbst überlassen. Doch Alternativen zum bestehenden Fatalismus weltumspannender Ökonomisierungstendenzen können uns helfen uns selbst wieder klar darüber zu werden, wie denn eine Welt aussehen könnte, wenn uns die gegenwärtige noch veränderungswürdig erscheinen mag.

Quellen:

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Migration als Widerstand

“We didn’t cross the border, the border crossed us.”

Die Grenzen von Nationalstaaten sind noch ein wesentliches Element zur Organisation der Welt. Zumindest in den Kulturkreisen des Westens und der dazugehoerigen Theorieproduktion sind wenig alternative Konzepte im Umlauf. Zumindest wenn man vermeidet ueber den Tellerrand hinauszusehen, hat das Konzept also ueberzeugt. In anderen Gegender der Erde, und in verschiedenen Laendern des globalen Suedens wird hingegen, noch immer mit den Folgen der kolonialen Grenzziehung faktisch gekaempft, nicht nur um die Deutungshoheit sondern ganz real unter Einsatz von Waffengewalt.

Ein Grund dafuer ist, dass diese Grenzziehungen bis heute nicht mit den Lebensrealitaeten der Bevoelkerung zu tun haben (muessen). Die Grenzziehung allein ist eine unzureichende Motivation zur Entwicklung einer nationalen Identitaet, die den Nationalstaat als solchen stuetzen und legitimieren kann. Als aktuelles Beispiel kann die kuerzlich erfolgte Abspaltung des Sued- Sudans vom Sudan herangezogen werden.

Andere Schwierigkeiten ergeben sich aus den, ueberall auf der Welt zu findenden nomadisch oder halbnomadisch lebenden Gruppierungen, die seit den Grenzziehungen stark in ihren tradierten Lebensgewohnheiten eingeschraenkt sind. Das soll nur als Beispiel gelten. Ueber die Jahrhunderte fand in allen Gesellschaften Migration statt, was in Europa, dass auch von der so genannten Voelkerwanderung gepraegt wurde hinlaenglich bekannt ist.

Mit den Grenzziehungen die aus der Etablierung der Nationalstaaten erfolgte wurde die Sesshaftigkeit zur Normalitaet und die Migration zu einem „un-normalen“Phaenomen, das fortan konsequent reguliert und im Zweifel strikt sanktioniert wird.

Das bedeutet, dass ein uebliches Ereignis, also das Verlassen einer temporaeren Heimat, aufgrund von Verfolgung, auf der Suche nach besseren Lebensgrundlagen, alleine oder in Gruppen ein legaler Rahmen zugewiesen wurde, mit dem es moeglich ist bestimmte Formen der Migration als „legal“ oder „illegal“zu beschreiben und entsprechende drastische Folgen zu legitimieren.

Trotz alledem kann die Grenzziehung und auch die scharfe Bewachung der Grenzraeume nur unzureichend dazu beitragen, die Migration dauerhaft zu regulieren. Sie scheint als Faktum in das menschliche Leben eingeschrieben zu sein. Die politische Grenzziehung ist dabei allenfalls ein neues Hindernis auf dem Migrationsweg, das ueberwunden werden muss, und zwar immer mit dem Ziel bessere Lebensbedingungen fuer sich und die eigene Gruppe zu finden.

Im heutigen Diskurs wird eine solche Migration gerne als Wirtschaftsflucht und damit als „illegal“ bezeichnet und damit diffamiert. Die Legitimation erhaelt diese Zuschreibung mit dem Verweis auf auf den Schutz der eigenen nationalen Oekoniomie, z.B. des Wirtschaftsraumes Deutschlands oder Europas.

„Wir koennen nicht alle aufnehmen“, heisst es dann, mal mehr oder weniger elaboriert. Als pragmatisch wird dann schon wahrgenommen eine Qoutenregelung fuer Auslaender_innen einzufuehren, die dem deutschen oder europaeischen Wirtschaftsraum nuetzen koennen, als Fachkraefte oder haeufiger als billige Arbeitskraefte fuer unliebsame und schlecht bezahlte Taetigkeiten.

Hier treten die Widersprueche im Diksurs um Fluchtmigration deutlich zu Tage. Waehrend sich die ehemals nationalen Oekonomien globalisieren, also internationale Wirkung entfalten, mit haeufig drastischen, negativen Folgen fuer die Laender des globalen Suedens und aeusserst positiven Folgen fuer die Industrielaender des Westens, wird die Verantwortung fuer die Situation in den Herkunftslaendern der Fluechtlinge einzig den Herkunftslaendern selbst zugeschrieben.

Hier dienen die Grenzen dann wieder tatsaechlich als Abgrenzung von Nationalstaaten um Verantwortung fuer wirtschaftliche Not eindeutig zuschreiben zu koennen, anstatt die Wirkungen einer globalen Oekonomie auch global zu loesen.

Wirtschaftsmigration kann deshalb auch anders interpretiert erden. Sie ist naemlich kein Akt von zufaellig in Not geratenen Opfern, sondern vielmehr Ausdruck widerstaendischen Handelns gegen eine globale Arbeitsteilung, die die Laender des Suedens nutzt um deren Menschen und Rohstoffe auszubeuten und die Grenzen dafuer braucht die Ausbeutungsverhaeltnisse zu stabilisieren und zu verhindern, dass die Ausgebeuteten den Versuch starten die Pfruende neu zu verteilen.

Wirtschaftsmigration ist aber der Versuch diese Arbeitsteilung zu ueberwinden und am selbst erarbeiteten Wohlstand der Welt zu partizpieren.

 

 

Zum weiterlesen:

Behr, Dieter Alexander (2014) “We didn’t cross the border, the border crossed us.” In. Bierdel, Elias; Lakitsch, Maximilian (Hrsg.) Flucht und Migration. Von Grenzen, Aengsten und Zukunftsschancen. Lit Verlag, Wien und Berlin. Seiten 27-35

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Deutschland rüstet auf

Vor wenigen Tagen verkündete Verteidigungsministerin von der Leyen ihre Pläne, für Deutschland Kampfdrohnen anschaffen zu wollen. Dabei stellen diese Pläne die logische Fortführung einer unheimlichen Entwicklung im Selbstverständnis Deutschlands und der Wahrnehmung von Kriegen dar.

Nachdem sie für ihr Projekt der „familienfreundlichen Bundeswehr“ wenig Applaus erhalten hatte, offenbarte Verteidigungsministerin von der Leyen vor kurzem ihre neusten Pläne: auch die Bundeswehr sei nun bereit für Kampfdrohnen – vor allem da ja in absehbarer Zeit sowieso keine Auslandseinsätze zu erwarten seien…

Abgesehen davon dass Drohnen äußerst umstritten sind – nach Schätzungen kommen z.B. in Pakistan auf ein beabsichtigtes „Ziel“ circa 50 Menschen, die „aus Versehen“ getötet werden – fügen sich die Pläne der Verteidigungsministerin in eine Entwicklung ein, die seit den 90ern eingesetzt hat.

Der Kosovo-Einsatz, kritisiert als Angriffskrieg und legitimiert als „humanitäre Intervention“ war der Anfang: das Prinzip „Nie wieder Krieg“, das in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg geherrscht hatte, wich nun zunehmend der Einstellung, die internationale Verantwortung Deutschlands als „Führungsmacht in Europa“ (de Maizière) wahrzunehmen – und zwar nicht nur zu müssen, sondern auch zu können. Aus diesem Grund startete von der Leyens Vorgänger im Amt de Maizière auch eine Umstrukturierung der Bundeswehr, deren dezidiertes Ziel vor allem ihre Einsatzausrichtung ist. Von der Leyens Pläne, Kampfdrohnen anzuschaffen, passen perfekt ins Bild. Dass Kampfdrohnen nur mit Zustimmung des Parlaments eingesetzt dürfen werden sollen erscheint dabei wie Augenwischerei, beantragten doch die CDU/CSU Fraktionen und die SPD vor kurzem eine „Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ um die „Möglichkeiten der Abstufung der Intensität parlamentarischer Beteiligung nach der Art des Einsatzes“ zu prüfen. Das klingt nicht gerade, als wäre demokratische Kontrolle erwünscht.

Aber wie sieht denn nun die „Wahrnehmung der Verantwortung als Führungsmacht“ Deutschland aus?

Nun, zum einen wurde ja bekanntermaßen „Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt“ (Peter Struck), die afghanischen Frauen befreit und Terroristen gejagt. Das Ergebnis sehen wir heute, 13 Jahre später.

Zum anderen aber läuft neben diesen „humanitären“ „wertorientierten“ Aspekten auch noch ein ganz anderer Film: als Bundespräsident Köhler 2010 in einem Interview die Aussage traf, dass „[…] ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren – zum Beispiel freie Handelswege […]“ ging ein Aufschrei der Empörung durch die Öffentlichkeit. Köhler trat vom Amt zurück. Dabei hatte der Präsident eigentlich nur ausgesprochen, was schon seit 2006 im Weißbuch der Bundeswehr stand: „Deutschland, dessen wirtschaftlicher Wohlstand vom Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt, hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen. […] Deutschland hat aufgrund seiner immer engeren Verflechtung in der Weltwirtschaft besonderes Interesse an internationaler Stabilität und ungehindertem Warenaustausch. […] Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografisch weit entfernten Regionen berücksichtigen, soweit sie unsere Interessen berühren. […] Deutsche Sicherheitspolitik beruht auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff.“

Dass Kriege (auch) für ökonomische Interessen geführt werden, ist nicht neu und eigentlich auch ein Allgemeinplatz. Nur hat es auch seine Gründe, warum ökonomische Interessen kein legitimer Kriegsgrund sind. Die UN Charta verbietet zunächst einmal grundsätzlich Gewalt zwischen Staaten, außer im Falle der Selbstverteidigung und dem Erhalt des Weltfriedens.

Denn es braucht nicht viel Phantasie sich auszumalen wo wir hinkommen, wenn Deutschland sich auf seine „Ehre“ besinnt, statt eine „unwürdige Rolle [zu spielen]. Denn militärisch nur das Nötigste und vermeintlich Gesichtswahrende zu tun, bleibt hinter unseren Möglichkeiten zurück.“ (Volker Rühe in der FAZ, 21.01.2014).

Willkommen in der schönen neuen Welt, in der Soldat*innen irgendwo in Europa oder den USA an Computern Knöpfe drücken, Menschen in Afrika oder dem Nahen Osten auf Bildschirmen töten und abends wieder heim zu ihren Familien gehen. In einer Welt, in der es dank Techniken wie Kampfdrohnen, die keine Verluste mehr auf „unserer“ Seite bedeuten, sehr einfach wird, Kriege als Polizeiaktionen und zur „Strafe“ zu führen. In der ein erweiterter Sicherheitsbegriff allgemein akzeptiert ist, mit dem sich Deutschland nun auch ganz ohne Scham Ressourcen und Märkte sichert; wo die Öffentlichkeit weiter eingeschränkt wird, indem selbst das Parlament in seinen Kontrollbefugnissen weiter beschnitten wird und überhaupt, „wir“ so stolz darauf sind, dass „wir“ ja eine so starke Wirtschaftsmacht mit Führungsanspruch auf dieser Welt sind….

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Gastbeitrag: Gedanken zum Nationalismus in Italien

Als Ausländerin, die einige Jahre in Deutschland gelebt hat, war ich immer wieder von der krampfartige Beziehung der Deutschen mit ihrem Nationalstolz erstaunt. Das Thema schien mir ein absolutes Tabu, das allerdings während wichtiger Sportveranstaltungen oder der Wirtschaftskrise aufgehoben wurde, obwohl dieser Prozess von einem latentem Schuldgefühl immer begleitet wurde.
Was von einigen als Minderwertigkeitskomplex bezeichnet wird, ist m.E. eine verständliche Folge der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Dekonstruktion von Begriffe wie Nation oder Heimat ist in Deutschland offensichtlich versucht worden, aber was passiert woanders?
Als Italienerin werde ich versuchen, eine Skizze der ebenfalls komplizierten Beziehung meiner Landsleute und ihrem Patriotismus zu zeichnen. Ein vollständiger Diskurs über Identität und Selbstwahrnehmung überschreitet die Grenze dieses Aufsatzes; es ist jedoch wichtig das Verhältnis der Italiener zu ihrem Staat zu verstehen.
Viele behaupten, eine wirkliche Vereinigung sei in Italien immer gescheitert, und die Unterschiede zwischen den seit Jahrhunderten getrennten kleinen Staaten der Halbinsel tauchten immer wieder auf. Allerdings existiert auch eine gewisse Rhetorik die an einer kulturellen Einheitlichkeit vor der politischen Einheit festhält. Wir lernen im Endeffekt in der Schule, dass ein wichtiger Autor wie Dante schon im Mittelalter von einem einheitlichen italienischen Staat träumte, ohne allerdings so genau zu hinterfragen, welche Grenze dieser haben sollte und vor allem wer daran regieren sollte – nämlich der römisch-deutsche Kaiser Heinrich VII. Garibaldi wird außerdem heute als Held wahrgenommen, obwohl seine Armee für die Interessen einer Monarchie – das Haus Savoyen – gegen einer anderen, die Bourbon, die in Süditalien herrschte, kämpfte.
Wie überall sind solche Mythen notwendig, um die Kohäsion der Bevölkerung zu erreichen und ein identitäres Modell zu schaffen. Selbstverständlich sind sie Konstruktionen, die mit der Zeit und je nach Gelegenheit adaptiert werden können. So setzte sich z.B. die rechts-populistische Partei Lega Nord am Anfang seiner politischen Parabel die Trennung Norditaliens von der Halbinsel als Ziel. Als sie aber in Berlusconis zweite Regierung eintrat, wurden die anti-italienischen Akzente gemildert und die Ausländer ersetzten die Süditaliener als Hauptgegner in der Propaganda der Partei.
Ein allgemeines Gefühl der Zugehörigkeit manifestieren die Italiener allerdings erst bei Fußballveranstaltungen. Trotzdem behalten sie auch in solche Gelegenheiten, eine generelle Tendenz, hyperkritisch dem eigenen Land gegenüber zu sein. Vielleicht ist es aber diese Neigung zur Kritik und vor allem zur Selbstsatire, die wirklich alle in Italien teilen, die das markanteste Merkmal des Verhältnisses der Italiener zum eigenen Land und der entsprechenden Rhetorik darstellt.

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Eine einfache Frage!?

Gestern Nachmittag war im deutschen Privatfernsehen die Sendung „Auf und davon“ zu sehen. In diesem Format werden junge Menschen von einem Kamerateam begleitet und berichten von ihren Erfahrungen und Erlebnissen im Ausland.

Eine kurze Szene aus der gestrigen Sendung: Eine junge Frau geht für ein Praktikum nach Indien. Dort angekommen, bezieht sie ein Hotel. Da es aber nicht „westlichen Standards“ entspricht, wechselt sie noch in der Nacht in ein 5-Sterne-Hotel. Papas Kreditkarte macht es möglich. Das Ganze wird so präsentiert, dass sich die Zuschauer*innen wohl denken müssen: „Ja, also unter diesen Umständen kann wohl niemand schlafen. Das Hotel hätte ich auch gewechselt!“. Das bleibt natürlich Antizipation. Aber es ist zu vermuten, dass die junge Frau immerhin einige Zustimmung gefunden hat.

Szenenwechsel: Wir befinden uns auf dem Dach der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Hier harren seit einiger Zeit Flüchtlinge aus, die das Gebäude besetzt haben. Vorher haben sie lange Zeit auf dem Oranienplatz in einem Protestcamp gelebt, weil sie keinen anderen Schlafplatz „westlichen Standards“ hatten. Sie mussten dort weg, denn die Kälte hat viele Menschen krank gemacht. Eine Unterbringung in Flüchtlingsheimen wurde ihnen erst nach Wochen des Protests vom Berliner Senat zugesichert. Außerdem wurde ihnen versprochen, ihre Verfahren zum Erhalt von Aufenthaltsrechten zu prüfen. Bislang blieb diese Prüfung aus. Vielen Flüchtlingen droht trotz des Senatsversprechens erneut ohne Prüfung die Abschiebung. Deshalb protestieren sie jetzt auf dem Dach der Schule. Für eine Behandlung nach Menschenrechts-Standards. Ohne Kreditkarte. Die Boulevardpresse spricht von „Anarchie“ und davon, dass die Flüchtlinge die Stadt „zum Narren“ halten würden.

Wie kann das sein?

Wie kommt es, dass die junge Frau in ein anderes Land gehen kann, sich dort ohne Weiteres aufhalten darf, ihre Unterkunft beanstanden kann und ihr in dieser Beanstandung zugesprochen wird, obgleich es sich hierbei um ein bewohnbares Zimmer handelte, das wahrscheinlich in einem besseren Zustand war als die meisten Zimmer in deutschen Flüchtlingsheimen? Wie kommt es, dass auf der anderen Seite Menschen die Lebensgrundlagen entzogen werden und dass wenn sie das beanstanden, sie der „Narrerei“ bezichtigt werden?

Was unterscheidet diese Menschen voneinander in ihrem Wunsch, ihr Leben nach ihren Wünschen und Bedürfnissen in Würde gestalten zu können?

Nichts!

Und doch: der Pass! Ein Dokument, welches mit dem Konstrukt der Nationalität verknüpft ist und der einen die Welt öffnet, den anderen die Welt verschließt. Ein Papier mit einem Foto, verbunden mit Privilegien. Die junge Frau darf im Besitz dieses Papiers in ein anderes Land, ohne Sprachtest, ohne Asylantrag, ohne Rechtfertigung. Vielleicht braucht sie ein Visum. Aber auch das bekommt sie ohne Weiteres. Die Flüchtlinge auf dem Berliner Dach dürfen nicht einfach so in einem anderen Land leben, nicht ohne Asylantrag und nicht ohne Integrationstest. Sie haben nicht das richtige Dokument!

Die Nationalität entscheidet. Sie ist nichts weiter als ein Eintrag auf der Geburtsurkunde. Eine Imagination! Und doch bestimmt sie die Möglichkeiten das eigene Leben zu gestalten.

Warum?

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Warum wir alle Nationalisten sind, die Unterscheidung zwischen Nationalismus und Patriotismus wahrscheinlich Quatsch ist und was das mit Flüchtlingen zu tun hat.

Die Beschäftigung mit Nationalismus ist ein schwieriges Unterfangen. Einerseits schwingt im Wort Nationalismus ein böser Unterton mit, den man gerne wegwischt und lieber vergessen würde. Anderseits ist Nationalismus so derart in unser Denken eingeflossen, dass es kaum möglich scheint, über den Nationalismus hinauszudenken.

In der ersten Variante, dem bösen Nationalismus, versteht man meisten den stumpfen Neo-Nazi-Nationalismus, der sich so gerne paart mit Rassismus, Antisemitismus und völkischen Herrenrassenideen. Diese Art von Nationalismus bekämpft man gerne und überall. (Fast) keine*r möchte die NPD dabei haben – zumindest nicht offiziell! Hier hat der Nationalismus definitiv einen ausgrenzenden Charakter, einen, der ein uns verteidigen möchte vor den anderen.

Die zweite Variante ist anders. Man könnte sie hier als den „guten“ Nationalismus bezeichnen. Das ist der Nationalismus, der dazu geführt hat, dass sich die heutigen Nationalstaaten herausgebildet haben. Das Verständnis einer Gruppe von sich selbst als Nation, bzw. als „gewollte Gemeinschaft“, hatte oder hat häufig einen emanzipatorischen Gehalt. Die Nation als identitätstiftendes Element trug dazu bei die Volkssouveränität zum Beispiel gegenüber einen absoluten Monarchen durchzusetzen, wie es idealtypisch die Französischen Revolution (1789-1799) vormachte. Oder man versuchte sich von einer Kolonialmacht zu befreien, wie Algerien von Frankreich, Indien von Großbritannien, etc., um dann zu einer eigenständigen Nation zu werden.

Der „gute“ Nationalismus wird heute gerne als „Patriotismus“ bezeichnet, weil durch den Nationalsozialismus das ursprünglich neutrale Wort „den Deutschen“ unangenehm in den Ohren klingt. Patriotismus ist die Hoffnung auf einen nicht auschliessenden, nicht chauvinistischen Nationalstolz. Eine Art von Patriotismus der zu einer gemeinsamen Identität führt ohne die Identitäten der anderen abzuwerten.

Deutschland hat dabei den Ruf eine „verspätete Nation“ zu sein. So hat sich erst mit der Reichsgründung (1871) vollzogen, was die meisten anderen europäischen Gemeinschaften schon viel früher vollbracht hatten. Die Gründung des deutschen Reiches war ein Akt, der von oben vollzogen wurde, eine Art Beschluß, und keine Revolution von unten. Kein emanzipatorischer Akt, sondern eine Hommage an die politische Notwendigkeit der Moderne. „Alternativlos“, würde man heute sagen.

Die meisten Nationalstaaten wurden entlang sprachlicher und kulturelle Grenzen gebildet.
In Deutschland spielte zunächst die Sprache die ausschlaggebende Rolle. Das bis zur Reichsgründung in viele Fürsten- und Königstümer zergliederte Deutschland hatte eigentlich nur die Sprache als identitätsstiftendes Element, ein Volk waren die Deutschen bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht. Die Reichsgründung trug dazu bei die Deutschen zum Volk und zu einer Nation werden zu lassen, und eine gemeinsame Geschichte und Identität zu entwickeln.

Die Gründung und Wiedergründung von Nationalstaaten ist bis heute nicht beendet. Polen, z.B. existierte 120 Jahre lang und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr als Nationalstaat. Isreal und Palästina, ein neu gegründeter und ein noch nicht gegründeter Nationalstaat (?), sind weit davon entfernt, eine Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren und umzusetzen. In der ganzen Welt gibt es regionale Autonomiebestrebungen, ein eigener Nationalstaat zu werden oder sich einem anderen Nationalstaat anzuschliessen. Jüngstes Beispiel ist dafür die Ukraine-Krise. Weitere Beispiele allein in Europa sind: Bask*innen oder Katalan*innen vs. Spanien, Norditalien vs. Süditalien, Nordirland oder Schottland vs. Großbritannien, und flämischsprachige gegen französischsprachige Belgier_innen.
(Bitte verzeiht, wenn hier die Konflikte etwas undifferenziert dargestellt werden).

Alles in allem ein höchst umstrittenes Konzept und eine extrem willkürliche Einteilung der Welt. Und doch ein derart überzeugendes Konzept, ohne dass wir nicht mehr auszukommen scheinen.

Wir benötigen es, um uns selbst zu erklären: „Wir Deutschen sind pünktlich und fleissig“. Zwei durchaus wichtige Eigenschaften. Wir benötigen es aber auch, wenn wir uns die anderen erklären: „Die [setzt hier Angehörige irgendeines Landes ein] sind faul, sind fleissig, sind groß, sind hübsch, sind emotional, sind korrupt, trinken viel, sind laut, sind zurückhaltend, lächeln immer, sind freundlich, sind anders als [die eines anderen Landes]“.

Die gesamten Sozialwissenschaften unterliegen dieser Art des Nationalismus. Eigentlich alle Schlüsselbegriffe wie Volk, Demokratie, Kultur und Politik gründen in der unanfechtbaren Idee des Nationalstaates, der unser Denken und Handeln bestimmt.

Zwei Beispiele:
In der Migrationsforschung werden wie selbstverständlich Kategorien gebildet, die die Deutschen von den ausländischen Menschen trennt, oder die grenzüberschreitende Migration anders bezeichnet, als die innerhalb eines Landes.
Es werden Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Ländern gemacht, als ob grundsätzlich davon ausgegangen werden könnte, dass in zwei verschiedenen Ländern sich die Dinge verschieden darstellen.

Und sogar die Verfasser*innen dieses Blogs fallen darauf herein, wenn sie ganz unbedarft nur in Deutsch schreiben, und ein deutschsprechendes Publikum in den Fokus nehmen.

Selbst das „geeinte“ und „friedliche“ Europa hat den Nationalismus noch nicht überwunden.
Noch immer wählen Deutsche deutsche Politiker*innen. Noch immer werden harte politische Programme, wie zum Beispiel die Austeritätspolitik gegenüber südlichen europäischen Ländern mit dem Schutz der eigenen Wirtschaft gerechtfertigt. Dabei vergessen die Angehörigen der eigenen Nation, dass sie sich auch als Europäer*innen begreifen könnten, und die Probleme eines Landes, die Probleme von „uns“ allen sind.
Bis heute werden mit dem Verweis auf die Nation Gewalt, Terror und Kriege legitimiert, wird „Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt (Peter Struck) Und wenn es ernst wird werden Menschen wie naturgegeben sich für die eigene Nation entscheiden, selbst dann noch, wenn die Politik des eigenen Landes für sie eigentlich untragbar geworden ist.

Wie selbstverständlich nehmen wir dabei an, dass uns etwas von den anderen unterscheidet. Wie selbstverständlich erkennen wir an, dass es Grenzen gibt, zwischen uns und den anderen. Dann wird auch selbstverständlich, dass es real existierende Grenzen gibt. Die unsichtbare Wand wird mit Schlagbäumen und Wegmarkierungen gekennzeichnet, mit Stacheldraht und Zäunen abgesichert. Das Eigene hört dann irgendwie an der Grenze auf, wie eine Pantomime stoßen wir an eine unsichtbare Wand, die uns von den anderen trennt, die uns vor dem Fremden trennt.

Die willkürliche Festlegung – und das ist der eigentliche Gedanke in diesen Zeilen – hat also reale Auswirkungen. So real, dass an den europäischen Außengrenzen Schiffe patroullieren, Satellitensystem installiert werden und andere Grenzschutzsysteme dazu beitragen, die unsichtbare Wand sichtbar und unpassierbar zu machen.

Man darf sich dabei nicht von der Einführung der innereuropäischen Freizügigkeit täuschen lassen. Nur weil wir scheinbar reisen dürfen wohin wir wollen, heisst das nicht, dass die Wände nicht wieder unpassierbar werden können. Das hat Frankreich bewiesen, als es ab 2010 Gruppenausweisungen, eine Form von Sippenhaft, von Roma mit rümänischer Staatsbürgerschaft durchgeführt hat. Rumänische Staatsbürger*innen, sogar Roma, sind EU-Bürger*innen und wurden trotzdem ausgewiesen.

Die innere Freizügigkeit hat auch zu einer Verstärkung der europäischen Außengrenzen geführt. Das hat dann aber noch immer nichts damit zu tun, dass innere nationale Grenzen überwunden wurden. Die gemeinsame Sicherung der europäischen Außengrenzen ist eher ein strategisches Vorgehen, die inneren Grenzen für die noch „Fremderen“ noch unpassierbarer zu machen.

Die Schengenabkommen haben schlicht dazu geführt, dass im wesentlichen die europäischen Randgebiete mit Fluchtmigration umgehen lernen müssen. Italien, Spanien und Griechenland müssen die Flüchtlingsabwehr betreiben, weil rechtlich eigentlich kein Mensch mehr, der auf dem Landweg nach Deutschland kam, Asyl erhalten wird.

Aus deutscher, das heisst nationaler Sicht, waren die Schengenabkommen eine grandiose strategische Leistung. Folgerichtiger Schritt dieser Grenzpolitik ist, die Grenzsicherung weiter in die Peripherie zu verlagern. Die nationale Grenzsischerung beginnt mit einem hohen Stacheldraht bewehrten und mit Schusswaffen verteidigten Zaun in Marokko.

Damit wird auch die Unterscheidung, die anfangs getroffen wurde etwas ungenauer. Auch hier existiert also etwas, dass „uns“ vor „den anderen“ schützen und verteidigen möchte und der gute Patriotismus verliert viel von seiner Unschuld.

Auch Patriotismus grenzt ab. Das Eigene muss aus Prinzip eine vorrangig Stellung einnehmen. Es ist meins. Patriotismus, entlässt unser Denken nicht aus der Dichotomie zwischen „uns“ und „den anderen“, nicht zwischen dem „Eigenen“ und dem „nicht- Eigenen“.

Diese Dichotomie manifestiert sich in den Grenzen. An den Grenzen wird das Gedankengebäude betonhart, wird die Unterscheidung zu Stacheldraht! Letztenendes führt die Unterscheidung zum Sterben an den Grenzen, weil unser Denksystem keine Differenzierung zulässt.

 TV-Bericht über den Grenzzaun vor Melilla, April 2014

Umgang mit Flüchtlingen aus Italien, Juni 2014

Europa BEKÄMPFT Flüchtlinge, von 2013

Ausweisung von Roma aus Frankreich, von 2010

 

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Opium fürs Volk – Abdel Fattah al-Sisi und die Idee der Nation

Mit überwältigender Mehrheit hat Abdel Fattah Al-Sisi die Präsidentschaftswahlen in Ägypten gewonnen. Doch bislang hat der frischgebackene Präsident außer hohlen Phrasen nichts zu bieten. Der Appell an die Nation soll nun die Massen für die kleptokratische Elite mobilisieren.

 

Je mehr der zuerst an die Macht geputschte und mittlerweile nun auch demokratisch legitimierte neue Präsident Ägyptens, Abdel Fattah Al-Sissi, seine macht konsolidiert, desto mehr wird klar, wie deutlich sich die Muslimbrüder politisch verkalkuliert haben.

 

Als Mohammed Mursi eigenmächtig den Vorsitzenden des Militärrates Tantawi absetzte, schien es als wäre der Machtkampf zwischen den Ikhwan (der Muslimbruderschaft) und dem Militär entschieden. Es deutete sich eine Art Duumvirat zwischen Militär und Muslimbrüdern an, innerhalb dessen sich beide Protagonisten, ihre Pfründe friedlich aufteilten.

 

Dennoch sollten die Interessen der beiden Gegenspieler, wie sich bald herausstellte, massiv aufeinanderprallen. Die Muslimbruderschaft war politisch seit jeher von den Strukturen eines wirtschaftsliberalen Kleinbürgertums getragen, deren islamischer Moralismus in gewisser Weise als modernes Pendant zur Max Weberschen „Protestantischen Ethik“ betrachtet werden kann. Was den Calvinisten im England der frühen Neuzeit der Handelsmonopolismus der Stuarts war, stellt für die Muslimbrüder die monopolistische Kontrolle der Dollarrenten durch das ägyptische Militär dar. Im Grunde stritten sich beide Kontrahenten weder um Politik, noch um Ideologien, sondern primär um den Zugang zu den Fleischtöpfen.

 

Hier genau liegt das Problem für die politische Legitimation beider Parteien. Weder Al-Sisi, noch die Muslimbrüder können den Massen verarmter Ägypter tatsächlich Lösungen bieten, denn dies ist schlicht nicht in ihrem politischen Interesse. Die Muslimbrüder wähnten sich hierbei in der komfortablen Situation, über die Repräsentation islamischer Frömmigkeit die Gesellschaft unter Kontrolle halten zu können. Die urbanen Bildungsbürger mögen ihre Revolution auf dem Tahrir gemacht haben. Sobald jedoch Wahlen stattfinden, kommt es auf diese zwar gut sicht- und hörbare jedoch für die Bevölkerung Ägyptens in keinster Weise repräsentative Minderheit nicht mehr an. Solange jeder Dorfimam die Slogans der Muslimbrüder predigt, wird das Volk schon glauben, dass der Islam die Lösung ist, so das Kalkül.

 

Jedoch hatten die Ikhwan zwei entscheidende Sachverhalte vergessen. Zum einen war das Militär immer noch im Besitz aller Machtmittel und hatte keinerlei Skrupel diese einzusetzen. Die gigantische Repressionswelle die durch Ägypten rollte hat den politischen Apparat der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (der politische Arm der Muslimbrüder) mittlerweile weitestgehend zerschlagen und auch große Teile der ökonomischen Infrastruktur der Ikhwan wurde von der Armee kurzerhand enteignet. Was unter der Oberfläche eines politischen Putsches stattfand, war de-facto ein großangelegter Raubfeldzug gegen die Besitzungen des politisch-islamischen Kleinbürgertums. In einem Wort: Klassenkampf.

 

Doch wichtiger noch scheint die Tatsache, dass al-Sisi es schaffte, die Massen weit wirkungsvoller als Mursi zu mobilisieren. Auf dem Mythos, welchen das ägyptische Militär seit jeher umgibt aufbauend, konnte er die Massen mit einem weit potenterem Opium betäuben, als noch Mursi dies vermochte.

 

Al-Sisis gekonnte Inszenierung als nationaler Heilsbringer einer vom Terrorismus bedrohten Nation konstruierte bekannte Dichotomien von der Nation und ihren Gegnern. Die Propaganda hört sich in etwa so an: Das Militär, die über den gefährlichen und Zwietracht sähenden Partikularinteressen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen stehende Fraktion, die nur am (nicht näher definierten) „Nationalwohl“ interessiert ist, steht dem „fremden“ und zutiefst „unägyptischen“ islamischen Terror gegenüber. Dieser habe selbstverständlich keinerlei soziale Basis im Gefüge der eigenen Nationen, sondern sei von Außen gesteuert. Die Muslimbrüder Marionetten der Qataris und Saudis. Passend hierzu die jüngste Verhaftung mehreren Al-Jazeera Journalisten. Der Sender wird gemeinhin als Sprachrohr der qatarischen Regierung betrachtet. Besagte Journalisten wurden zu je sieben Jahren Haft, wegen „Unterstützung der Muslimbruderschaft“ verurteilt. Insgesamt wurden innerhalb des letzten Jahres 41.000 Demonstranten verhaftete, 180 von ihnen in einem Sammelprozess zum Tode verurteilt.

 

Der Bezug auf die nationalen Mythen kommt dennoch an. Wie bereits erwähnt gewann Al-Sisi die Präsidentschaftswahlen mit überragender Mehrheit. Über die zentralen Probleme des Landes: Jugendarbeitslosigkeit, Armut, Korruption, ökonomisches Mismanagment hat er allerdings nicht viel mehr zu sagen, als auf platte Art und Weise Austerität zu predigen: Jeder müsse den Gürtel enger schnallen, so al-Sisi. Er selbst habe sich soeben sein Präsidentengehalt halbiert. Das letzteres angesichts der Wirtschaftsmacht der Armee nur einen Bruchteil seines Einkommens ausmachen dürfte, hat der Mann geflissentlich verschwiegen. Ein wahrer Volkstribun eben.

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Russland auf der Bühne – Neorealismus reloaded

Die Zeit der Hoffnung, dass der Nationalstaat in einer blockfreien Welt an Bedeutung verliert, ist vorbei. Russland und die EU-Wahlen sind nur zwei Beispiele dafür, dass der Nationalstaat weiterhin und verstärkt der Referenzpunkt in den Köpfen und der Politik bleibt. Neorealismus reloaded – inklusive der Gefahren, die ein nationalsstaatliches Denken mit sich bringt.

Lange Zeit schien es so, als ob Kenneth Waltz mit seinen simplen Annahmen, dass die Staaten im anarchischen internationalen System allein zur Überlebenssicherung nach Macht strebten, recht behalten würde. Eine Balance an verfeindeten Staaten hielt die Welt zwar in Atem, jedoch mit der Sauerstoffmaske des „stabilen Gleichgewichts“, das Frieden durch militärischen Gleichstand garantieren sollte.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte sich dann kurzfristig die Erzählung des Siegs des Liberalismus durch. Francis Fukuyama deutete den Fall der Mauer sogar als „Ende der Geschichte“, da nun schlussendlich alle zum Prinzip Demokratie und damit Frieden gefunden hätten. Der Neorealismus hatte vorerst ausgedient, wechselseitiger Handel und die Ausdehnung der Globalisierung wurden die neuen Ideologien. Wer miteinander handelt, wird wohl kaum Krieg gegeneinander führen, so die Idee. Damit einher ging auch die Vorstellung, dass der Nationalstaat zwar nicht völlig aufgelöst würde, aber zunehmend an Einfluss verlöre. Grenzen galt es im Namen der „New World Order“ für die Wirtschaft zu öffnen, sodass es allen, unabhängig der Nationalität, besser ginge. Die Globalisierung machte laut Friedman die Welt flacher, mit Technologien drehte sich die Welt ein wenig schneller. Der Zugang zu mehr Märkten deutete eine Gewichtsverlagerung von Staatensouveränität zur Macht der Konzerne an.

Mit 9/11 endete dieser honeymoon der neuen Weltordnung, der Krieg gegen den Terrorismus wurde von Präsident Bush ausgerufen. Ein Krieg, der sich gegen terroristische, nicht-staatliche Netzwerke wandte, sich jedoch in Kriegen und Interventionen in Nationalstaaten wie Afghanistan und Irak manifestierte. Das war allerdings nur der Anfang, die aktuelle Rückkehr zum Staat und damit der Rückzug und die Abschottung in die eigene Nation sind Auswüchse des Endes des Kalten Krieges, die kaum einer vorher sehen konnte und zu managen wusste. Zwei aktuelle Beispiele zeigen, dass der Nationalstaat weiterhin das entscheidende Konzept in den Köpfen aller bleibt.

Russland suchte nach 1993 als Nachfolgerin der UdSSR den Anschluss an den Westen. In der Regierung hatten sich die so genannten westernizer durchgesetzt, die vor allem auf die Öffnung nach Europa und die USA setzten und auf Hilfe bei der Transition von dort hofften. Doch die Erwartungen wurden enttäuscht, die EU konzentrierte sich auf die Staaten in Mitteleuropa, und trieb die Osterweiterung voran. Die USA hingegen nahm Russland nicht mehr ernst, der einstige Feind im Osten war ideologisch wie wirtschaftlich erledigt und bedeutungslos. So setzte sich nach Yelzins Tod die Führungselite um Putin durch, die bereits vor den Anschlägen des 9/11 wieder für den genuin „russischen Weg“ und die Besonderheit Russlands plädierten. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center suchte Putin ein letztes Mal den Dialog auf „Augenhöhe“, bot den USA Hilfe bei ihrem Kampf gegen den Terrorismus an, hatten sie doch beide – Russland in Tschetschenien, USA gegen die Al-Quaida – ihre innere und äußere Souveränität zu verteidigen. Die USA zeigten sich nicht interessiert, seitdem ist Russland offiziell aus dem liberalen Schmusekurs des Westens ausgeschert. OSZE-Beobachter*innen werden nach eigenem Gusto bei Wahlen zugelassen. In Georgien erkannte es Südossetien und Abchasien als souverän an, obwohl der Sechs-Punkte-Plan, der mit der EU ausgehandelt wurde, dies ausdrücklich untersagte. Im Sicherheitsrat votiert Russland stets gegen Resolutionen, die die innere Souveränität von Staaten betreffen. Putin hielt zudem selbstbewusst den USA und EU auf der Sicherheitskonferenz 2007 den Spiegel vor, wie wenig sie sich um die innere Unabhängigkeit von Staaten scherten. Doch erst mit dem Konflikt in der Ukraine dämmert es im Westen, dass Russlands jahrelanges Säbelrasseln nicht mehr nur leere Drohung, sondern eine gefestigte außenpolitische Haltung ist, die gefährlich und militärisch werden kann. Aktuell zieht Russland an den Grenzen die Truppen zusammen, der völkerrechtswidrige Einsatz von Soldaten auf der Krim war eine Demonstration der Macht, von „Ich mache es, weil ich es kann“. Die Nato lässt sich  herausfordern und veranstaltet Manöver in der Ostsee. War die Ukraine bisher ein wirtschaftliches Schlachtfeld, ist sie nun die Bühne, auf der Russland seine staatliche Unverletzlichkeit zur Aufführung bringen kann.

Dabei führt sie zudem wieder die EU und ihre nationale Vielstimmigkeit vor. Weniger als zuvor ist die Union in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Deutschland erhält sich die direkte Kommunikation mit Putin, während sich Polen und das Baltikum Schutz von den USA versichern lassen. Viel besprochen worden ist auch der Ausgang der Europa-Wahl Ende Mai, der in vielen Ländern den Wunsch nach Rückkehr zum eigenen Staat und der eigenen Stärke widerspiegelte. Vor allem die Wirtschaft, eigentlich als der ultimative Befrieder und Gleichmacher gedacht, ist seit 2008 der Stein des Anstoßes und treibt die Staaten aus- und gegeneinander, was in den Narrativen und den Wahlen in den Staaten offen zutage tritt. „Die Deutschen“ drücken das Spardiktat auf und zeigen damit wieder „ihr wahres Gesicht“, „die Griech*innen“ haben sich in die EU „geschummelt“, „die Brit*innen“ erpressen den Rest mit dem Ausstieg aus der Union, „die Schweden“ machen alles richtig, Dänemark machte im Alleingang kurzfristig die Grenzen wieder dicht. Noch mag das alles nach nationalistischer Folklore aussehen, als ein kurzfristiger Backlash ins nationale Gedankengut, aber die böse Saat ist gesät. Aus den halbwitzig gemeinten Headlines wird Ernst, der Flüsterwitz über „die Anderen“ wird lauter, schlägt um in Gewissheiten und jagt ein fragiles Projekt in die Luft, das versucht hat, über Wirtschaft Frieden zu erlangen, und nun begreift, dass die Wirtschaft weiterhin einen ideologischen Keil zwischen die Staaten treibt. Dabei hat die EU inzwischen mehr Potenzial, über inzwischen selbstverständliche Rechte wie Freizügigkeit deutlich zu machen, dass „das Andere“ nicht so fremd und unverständlich sein muss, wie man es sich vorstellt.

Weder die Wirtschaft noch ein machtvoller und souveräner Nationalstaat mit entsprechenden Gegengewichten bringen Frieden und Wohlstand. Es ist die Beschäftigung, die Annäherung und der Respekt für „den Anderen“, ein Wandel im Denken über die „Anderen“, das Potenzial birgt. Die Rückkehr zum Nationalstaat muss wahr- und ernstgenommen werden als Gefahr. Ansonsten heißt es – Neorealismus reloaded.

Eine Analyse des deutsch/europäisch-russischen Verhältnisses.

Russland auf dem Weg zum Nationalstaat oder Imperium?

(fl)

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Kanufahrende Indios und der brasilianische Staat – Eine kleine Bestandsaufnahme

Wer sich die Eröffnungsfeier der WM in Brasilien zu Gemüte geführt hat, konnte sich vor Folklore und Stereotypisierungen in Bezug auf „typische“ Brasilien-Assoziationen kaum retten. Da wurde von rassigen Samba-Damen bis zum Bild der fußballverrückten Nation nichts ausgelassen. Besonders eindringlich (und dem kritischen Beobachter besonders verräterisch zugleich) war die Szene, die einen eingeborenen, einen einer indigenen Bevölkerungsgruppe zugehörigen Jungen zeigte, der auf einem von Menschen getragenen Kanu übers Fußballfeld „paddelte“ und dabei äußerst ungetrübt und zufrieden aussah. Gleichzeitig, und das kam dann selbstverständlich nicht mehr in allen Kanälen, gab es am Ende der Feier einen kleinen Vorfall. Ein ebenfalls einer indigenen Gruppierung angehöriger Junge präsentierte ein beschriftetes Schild, welches indigene Landrechte einforderte. Der Kontrast zwischen diesen beiden (Selbst-)Darstellungen könnte nicht größer sein. Da stellt sich doch die Frage, wie es den indigenen Gruppierungen im brasilianischem Staatsgebiet denn nun wirklich geht? Sind sie glücklicher Teil dieser Gesellschaft oder nur ein Folklore-Accessoire, ein unbequemer Schlag an Menschen, welche sich einfach nicht an Brasilien und dem damit einhergehenden Ordnungsmuster halten wollen?

Auf den ersten Blick wird die indigene Bevölkerung (oder die „Indios“, wie sie in der Mehrheitsgesellschaft immer noch genannt werden) rechtlich immer tiefergehend in die brasilianische Gesellschaft integriert. Dies wurde national durch die neue Verfassung 1982 bewerkstelligt, ein Produkt der Demokratisierungswelle in Lateinamerika, welche auch juristisch die alten Diktaturen und Militärjuntas abzuschütteln vermochte und von dem alten Assimilationsgedanken Abstand nahm. Auch international erkannte man mit der Konvention 169 der Internationalen Arbeiterorganisation 1989 die indigene Bevölkerung Brasiliens als eigenständige Gruppe im Nationalstaat an. Mit der Deklaration der UNO über die Rechte indigener Gruppen wurde dann dem „multikulturellem Zeitalter“ die Krone aufgesetzt. Ausdrücklich setzt man nun auf eine Erhaltung der indigenen Kultur: Von der selbstständigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung über eigene pädagogische Einrichtungen hin bis zu politischer Mitwirkung hörte sich alles so an, als ob diese Indios nun wirklich jeden Grund hätten mit fröhlichem Grinsen im Kanu zu paddeln, sich zurückzulehnen und den gutmütigen Vater Staat doch mal für die eigenen Rechte kämpfen zu lassen.

Die Realität sieht allerdings, wie so oft, ganz anders aus. In Lateinamerika im Allgemeinen und in Brasilien im Besonderen stellen die indigenen Völker die größte benachteiligte Bevölkerungsgruppe dar. In Sachen Lebenserwartung und Einkommen liegen die Indigenen immer noch unter dem Gesamtdurchschnitt. Sie profitieren in geringerem Ausmaß von generellen sozialen Hilfsmaßnahmen und erholen sich langsamer von wirtschaftlichen Krisen. Ganz konkret ist die mediale Aufmerksamkeit auf die Amazonasgebiete gerichtet, welche zu großen Teilen dem den indigenen Gruppen zugesprochenem Land zugehört. Hier ist nicht die größte Bedrohung der Staat, sondern forst- und agrarwirtschaftliche Unternehmen, welche das abgelegene Amazonasgebiet immer wieder unbehelligt vom staatlichen Gewaltmonopol für eigene Interessen nutzen und das Land der Indigenen als existenzielle Grundlage ausbeuten. Teilweise ist der Staat hier auch ein (un)beteiligter Dritter, dem aufgrund des umfassenden Korruptions- und Patronagesystem der Wille zur entschlossenen Intervention oft fehlt. Bei der mythisierenden Darstellung der Problematik der „Ur-Völker“ im bedrohlichen und faszinierenden Amazonasgebiet zugleich, so wie sie die westlichen Medien darstellen, geht eine ganz andere, vielleicht viel akutere Ungerechtigkeit oft einfach unter. Im Gegensatz zur rund der einen Hälfte der Ureinwohner Brasiliens, welche über 98,5% des offiziell der indigenen Gruppen zugesprochenem Gebiet verfügen, wohnt die andere Hälfte vornehmlich im Süden Brasiliens, ohne die Garantie von eigenem Land. Diese Menschen, welche sich durch eine integrale Verbundenheit zur ihrer natürlichen Umgebung definieren (so gibt es in vielen indigenen Ur-Sprachen keine Unterscheidung von Kultur/Natur, Mensch/Pflanze etc.) werden in die Slums der Großstädte gedrängt und dort ihrem Schicksal überlassen.

Wie können wir die paradoxe Situation, wenn nicht lösen, dann vielleicht einordnen? Wie kann man Abhilfe schaffen, dass weitreichende und verbindliche Rechtskonstitutionen offensichtlich im krassen Wiederspruch zur realen und alltäglichen Situation der Indigenen stehen? Denn wie wir schon aus der (post-)kolonialen Geschichte heraus ahnen können, sehen die wahren Verhältnisse doch ganz anders aus. Man bietet „den“ Indigenen dort die Gastfreundschaft an, wo man eigentlich selbst Gast ist. Freilich ein ungeladener Gast, der gekommen ist um zu bleiben. Es muss hier um eine grundlegende Veränderung der Einstellungen gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen gehen. Um Ernst-haftigkeit, ehrliches Interesse und wahre Toleranz. Um eine Um-Schreibung der offiziellen brasilianischen Nationalgeschichte, die nur allzu gern die nationale Unabhängigkeit von Portugal feiert, dabei aber vergisst, dass man selbst manchmal als ungebetener Kolonist gesehen wird. Doch wer den Staat Brasilien rückgängig machen will, lebt in einer fantastischen Wunderwelt. Es muss um eine Neu-Definition von Staat gehen, welche nicht ausschließt was eigentlich ihr inneres ist. Es geht um eine gesellschaftliche Anerkennung, nicht von den Indigenen, sondern von den Guarani, Kaingang, Yanomami und ca. 205 weiteren Völkern, die sich aneinander so sehr ähneln (oder auch nicht), wie die Brasilianer den Portugiesen.

Vortragsprotokoll von Georg Grünberg (emeritierter Anthropologe mit Forschungsschwerpunkt Lateinamerika) zur Lage der indigenen Bevölkerung in Brasilien: http://www.pfz.at/article1513.htm

Analyse der Situation von Indigenen in Lateinamerika insgesamt (GIGA-Institut für Lateinamerikastudien): http://www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_lateinamerika_1008.pdf

Über den Konflikt im Amazonsasgebiet: http://www.theguardian.com/world/2014/jan/07/brazil-indigenous-rights-activists-hail-illegal-settlers-eviction und http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/may/29/brazil-indigenous-people-violates-rights

 

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Zwischen diktatorischem Nationalismus und ethnisiertem Terror – ein Blick nach Syrien

Vor lauter Ukraine-Konflikt, Fußball-WM und ISIS-Marsch auf Bagdad ist es still geworden um den Krieg in Syrien. Zeit, sich diesen Mal wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Seit 2011 hat der Bürgerkrieg in Syrien mehr als 160 000 Tote gefordert. Nach UNCHR-Angaben mussten circa 40% der syrischen Bevölkerung fliehen, die meisten davon als Binnenvertriebene im eigenen Land. Doch auch in den Nachbarländern suchen viele Schutz: seit kurzem hat die offizielle Zahl der registrierten Flüchtlinge in der Türkei die Millionengrenze überschritten, in Jordanien wird ihre Zahl auf 600 000 geschätzt. Im Libanon macht die Anzahl syrischer Flüchtlinge mit circa 1,1 Millionen gar ein Viertel der libanesischen Bevölkerung aus – dass Deutschland bisher circa 40 000 Syrer*innen aufgenommen hat und nun das Kontingent um weitere 10 000 erweitert hat, nimmt sich gegen solche Zahlen recht bescheiden aus.

Und die Zahl der Flüchtlinge wird wahrscheinlich weiter steigen, ist doch kein Ende des Konflikts in Sicht. Die Fronten haben sich im Großen und Ganzen festgefahren: Assads Regime hat wichtige Städte und Regionen wie Homs zurückerobert und kontrolliert weite Teile im Westen. Die Nordprovinzen bleiben umkämpft zwischen dem Regime, der Freien Syrischen Armee, Kurden und ISIS. Die Opposition gegen das Regime ist selbst bekanntermaßen vielfach gespalten: Kurden wehren sich gegen islamistische Extremisten, die Freie Syrische Armee steht sowieso im Ruf, mehr ein Label als eine strukturierte Organisation zu sein, Islamisten kämpfen gegen Islamisten, wie die Al-Nusra-Front gegen ISIS. Letztere erschien erst im vergangenen Jahr auf der Bühne des Bürgerkrieges, besteht zu großen Teilen aus ausländischen Jihadisten und machte sich mit Massenexekutionen und Gewaltexzessen schnell bei Bevölkerung und Rebellen unbeliebt. ISIS sei mehr damit beschäftigt, die Macht in „befreiten Gebieten“ an sich zu reißen statt gegen das Regime zu kämpfen. Zudem ist ISIS berüchtigt für seine Brutalität, die sogar Al-Qaida Kommandeur Al Zawahiri verurteilt.

Die vergessenen Akteur*innen: zivile Grasswurzelbewegungen

Angesichts dieses grausamen Mordens und Zerstörens ist der Ausgangspunkt der Syrienkrise fast in Vergessenheit geraten: ursprünglich waren die Menschen Syriens, angesteckt von den Hoffnungen des Arabischen Frühlings auf die Straße gegangen, um für politische Freiheit, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit friedlich zu demonstrieren. Nun sieht es so aus, als würde die syrische Gesellschaft zerfallen, nicht nur entlang ideologischer Fronten, sondern auch entlang ethnischer und konfessioneller Linien: die Kurden kämpfen für Autonomie und fühlen sich von nationalistischen Tendenzen im Syrischen Nationalrat ausgeschlossen, Islamisten massakrieren Alawiten, eine religiöse Minderheit, zu der auch Assad gehört und Christen fürchten, dass ihnen ein ähnliches Schicksal droht.

Doch – es gibt sie noch, die friedlichen zivilen Widerstandsbewegungen, die unterhalb des Radars der großen Öffentlichkeit agieren. Organisiert in zahlreichen lokalen Komitees, sind sie es, die – zum Teil mit Unterstützung von Hilfsorganisationen aus dem Ausland – humanitäre Hilfe leisten, z.B. Dialysepatient*innen versorgen oder in Aleppo nach Bombenangriffen des Regimes Verschüttete suchen und Verletzte versorgen. Sie bilden Bürger*innen zu „Straßen-Reporter*innen“ aus, dokumentieren die Zahlen von Toten und Verletzten. Aber vor allem sind sie es, die den Grundstein für eine Zukunft Syriens legen: mit Kultur und Nachbarschaftskooperationen wollen sie Extremisten und Fragmentierung die Stirn bieten.

Identitätssuche zwischen den Stühlen

Dabei befinden sie sich „zwischen den Stühlen“, denn auch gegen Assads Regime und seine totalitäre Rhetorik des nationalen Gemeinsinns wehren sie sich. Wo auf der einen Seite Konfession und Ethnie spaltend wirkt, verpflichtet auf der anderen Seite der Zwang zur nationalen Einheit zur Unterwerfung unter Assads Diktatur. Denn Sektierertum existierte in Assads Syrien offiziell nicht: es galt die Ideologie des Nationalismus. Das (westliche) Konzept des Nationalismus entstand im arabischen Raum als Befreiungsmodell gegen den Kolonialismus; der westlichen Dominanz sollte etwas „Eigenes“, nämlich eine „arabische Identität“, eine „arabische Nation“ verstanden als „Kulturnation“ mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Geschichte als vereinendes Element entgegengesetzt werden. Dieser Panarabismus bzw. arabische Nationalismus war insbesondere für religiöse Minderheiten wie Christen, Drusen und Alawiten interessant, da sie in diesem Identitätskonzept Platz fanden. Ethnische Minderheiten mit einer eigenen Sprache und Kultur dagegen, wie die Kurden, Turkmenen oder Armenier, wurden jedoch ausgeschlossen.

Während auf der einen Seite der offizielle Diskurs diese „arabische Identität“ Syriens propagierte und Einheit und Gemeinsinn beschwor, sah die Realität jedoch anders aus. Assad Senior knüpfte an die koloniale Herrschaftsstrategie des „teile und herrsche“ an, indem er ihm loyale Alawiten-Stämme privilegierte und sich eine Machtbasis unter den städtischen Kleinbürgern und den Armen in ländlichen Regionen aufbaute. Das Erfolgsrezept von Hafez al-Assad war es, mit den Ängsten, Komplexen und Rivalitäten zwischen Konfessionen, Schichten und Stämmen zu spielen. Unter dem Deckmantel der nationalen Einheit blieb die syrische Gesellschaft fragmentiert und durch gegenseitiges Misstrauen und Einschüchterung durch den enormen Militär- und Sicherheitsapparat atomisiert.

Der jetzige Bürgerkrieg lässt diese Schismen weiter aufbrechen, noch dazu, wenn ausländische Akteure diese wiederum für sich instrumentalisieren.

Zivile Graswurzelbewegungen scheinen eingekeilt zwischen dem faschistischem, totalitären Nationalismus Assads einerseits und einem ethnisierten und konfessionalisierten Terror andererseits. Es bleibt zu hoffen, dass es auch weiterhin Aktionen wie das „Frühlingsfestival: Zwischen Farben und Kulturen“ in der kurdischen Stadt Qamishli geben wird , wo Kulturen sich nicht im Hass gegenüberstehen, sondern gemeinsam Feste feiern. Vielleicht werden diese Aktionen der Versöhnung letztendlich auch Früchte tragen.

Und sei es nur in ferner Zukunft.


Viele Hintergrundartikel und eine interaktive Karte der Fronten in Syrien:

http://www.bbc.com/news/world-middle-east-22798391

Zu humanitären Lage in Syrien:

http://www.sueddeutsche.de/politik/un-bericht-millionen-syrer-brauchen-humanitaere-hilfe-1.2009796

Don’t ignore Syria’s nonviolent movement – Artikel im Guardian:

http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/jun/07/syria-nonviolent-movement-freedom-justice

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