Zwischen diktatorischem Nationalismus und ethnisiertem Terror – ein Blick nach Syrien

Vor lauter Ukraine-Konflikt, Fußball-WM und ISIS-Marsch auf Bagdad ist es still geworden um den Krieg in Syrien. Zeit, sich diesen Mal wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Seit 2011 hat der Bürgerkrieg in Syrien mehr als 160 000 Tote gefordert. Nach UNCHR-Angaben mussten circa 40% der syrischen Bevölkerung fliehen, die meisten davon als Binnenvertriebene im eigenen Land. Doch auch in den Nachbarländern suchen viele Schutz: seit kurzem hat die offizielle Zahl der registrierten Flüchtlinge in der Türkei die Millionengrenze überschritten, in Jordanien wird ihre Zahl auf 600 000 geschätzt. Im Libanon macht die Anzahl syrischer Flüchtlinge mit circa 1,1 Millionen gar ein Viertel der libanesischen Bevölkerung aus – dass Deutschland bisher circa 40 000 Syrer*innen aufgenommen hat und nun das Kontingent um weitere 10 000 erweitert hat, nimmt sich gegen solche Zahlen recht bescheiden aus.

Und die Zahl der Flüchtlinge wird wahrscheinlich weiter steigen, ist doch kein Ende des Konflikts in Sicht. Die Fronten haben sich im Großen und Ganzen festgefahren: Assads Regime hat wichtige Städte und Regionen wie Homs zurückerobert und kontrolliert weite Teile im Westen. Die Nordprovinzen bleiben umkämpft zwischen dem Regime, der Freien Syrischen Armee, Kurden und ISIS. Die Opposition gegen das Regime ist selbst bekanntermaßen vielfach gespalten: Kurden wehren sich gegen islamistische Extremisten, die Freie Syrische Armee steht sowieso im Ruf, mehr ein Label als eine strukturierte Organisation zu sein, Islamisten kämpfen gegen Islamisten, wie die Al-Nusra-Front gegen ISIS. Letztere erschien erst im vergangenen Jahr auf der Bühne des Bürgerkrieges, besteht zu großen Teilen aus ausländischen Jihadisten und machte sich mit Massenexekutionen und Gewaltexzessen schnell bei Bevölkerung und Rebellen unbeliebt. ISIS sei mehr damit beschäftigt, die Macht in „befreiten Gebieten“ an sich zu reißen statt gegen das Regime zu kämpfen. Zudem ist ISIS berüchtigt für seine Brutalität, die sogar Al-Qaida Kommandeur Al Zawahiri verurteilt.

Die vergessenen Akteur*innen: zivile Grasswurzelbewegungen

Angesichts dieses grausamen Mordens und Zerstörens ist der Ausgangspunkt der Syrienkrise fast in Vergessenheit geraten: ursprünglich waren die Menschen Syriens, angesteckt von den Hoffnungen des Arabischen Frühlings auf die Straße gegangen, um für politische Freiheit, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit friedlich zu demonstrieren. Nun sieht es so aus, als würde die syrische Gesellschaft zerfallen, nicht nur entlang ideologischer Fronten, sondern auch entlang ethnischer und konfessioneller Linien: die Kurden kämpfen für Autonomie und fühlen sich von nationalistischen Tendenzen im Syrischen Nationalrat ausgeschlossen, Islamisten massakrieren Alawiten, eine religiöse Minderheit, zu der auch Assad gehört und Christen fürchten, dass ihnen ein ähnliches Schicksal droht.

Doch – es gibt sie noch, die friedlichen zivilen Widerstandsbewegungen, die unterhalb des Radars der großen Öffentlichkeit agieren. Organisiert in zahlreichen lokalen Komitees, sind sie es, die – zum Teil mit Unterstützung von Hilfsorganisationen aus dem Ausland – humanitäre Hilfe leisten, z.B. Dialysepatient*innen versorgen oder in Aleppo nach Bombenangriffen des Regimes Verschüttete suchen und Verletzte versorgen. Sie bilden Bürger*innen zu „Straßen-Reporter*innen“ aus, dokumentieren die Zahlen von Toten und Verletzten. Aber vor allem sind sie es, die den Grundstein für eine Zukunft Syriens legen: mit Kultur und Nachbarschaftskooperationen wollen sie Extremisten und Fragmentierung die Stirn bieten.

Identitätssuche zwischen den Stühlen

Dabei befinden sie sich „zwischen den Stühlen“, denn auch gegen Assads Regime und seine totalitäre Rhetorik des nationalen Gemeinsinns wehren sie sich. Wo auf der einen Seite Konfession und Ethnie spaltend wirkt, verpflichtet auf der anderen Seite der Zwang zur nationalen Einheit zur Unterwerfung unter Assads Diktatur. Denn Sektierertum existierte in Assads Syrien offiziell nicht: es galt die Ideologie des Nationalismus. Das (westliche) Konzept des Nationalismus entstand im arabischen Raum als Befreiungsmodell gegen den Kolonialismus; der westlichen Dominanz sollte etwas „Eigenes“, nämlich eine „arabische Identität“, eine „arabische Nation“ verstanden als „Kulturnation“ mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Geschichte als vereinendes Element entgegengesetzt werden. Dieser Panarabismus bzw. arabische Nationalismus war insbesondere für religiöse Minderheiten wie Christen, Drusen und Alawiten interessant, da sie in diesem Identitätskonzept Platz fanden. Ethnische Minderheiten mit einer eigenen Sprache und Kultur dagegen, wie die Kurden, Turkmenen oder Armenier, wurden jedoch ausgeschlossen.

Während auf der einen Seite der offizielle Diskurs diese „arabische Identität“ Syriens propagierte und Einheit und Gemeinsinn beschwor, sah die Realität jedoch anders aus. Assad Senior knüpfte an die koloniale Herrschaftsstrategie des „teile und herrsche“ an, indem er ihm loyale Alawiten-Stämme privilegierte und sich eine Machtbasis unter den städtischen Kleinbürgern und den Armen in ländlichen Regionen aufbaute. Das Erfolgsrezept von Hafez al-Assad war es, mit den Ängsten, Komplexen und Rivalitäten zwischen Konfessionen, Schichten und Stämmen zu spielen. Unter dem Deckmantel der nationalen Einheit blieb die syrische Gesellschaft fragmentiert und durch gegenseitiges Misstrauen und Einschüchterung durch den enormen Militär- und Sicherheitsapparat atomisiert.

Der jetzige Bürgerkrieg lässt diese Schismen weiter aufbrechen, noch dazu, wenn ausländische Akteure diese wiederum für sich instrumentalisieren.

Zivile Graswurzelbewegungen scheinen eingekeilt zwischen dem faschistischem, totalitären Nationalismus Assads einerseits und einem ethnisierten und konfessionalisierten Terror andererseits. Es bleibt zu hoffen, dass es auch weiterhin Aktionen wie das „Frühlingsfestival: Zwischen Farben und Kulturen“ in der kurdischen Stadt Qamishli geben wird , wo Kulturen sich nicht im Hass gegenüberstehen, sondern gemeinsam Feste feiern. Vielleicht werden diese Aktionen der Versöhnung letztendlich auch Früchte tragen.

Und sei es nur in ferner Zukunft.


Viele Hintergrundartikel und eine interaktive Karte der Fronten in Syrien:

http://www.bbc.com/news/world-middle-east-22798391

Zu humanitären Lage in Syrien:

http://www.sueddeutsche.de/politik/un-bericht-millionen-syrer-brauchen-humanitaere-hilfe-1.2009796

Don’t ignore Syria’s nonviolent movement – Artikel im Guardian:

http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/jun/07/syria-nonviolent-movement-freedom-justice

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