Kanufahrende Indios und der brasilianische Staat – Eine kleine Bestandsaufnahme

Wer sich die Eröffnungsfeier der WM in Brasilien zu Gemüte geführt hat, konnte sich vor Folklore und Stereotypisierungen in Bezug auf „typische“ Brasilien-Assoziationen kaum retten. Da wurde von rassigen Samba-Damen bis zum Bild der fußballverrückten Nation nichts ausgelassen. Besonders eindringlich (und dem kritischen Beobachter besonders verräterisch zugleich) war die Szene, die einen eingeborenen, einen einer indigenen Bevölkerungsgruppe zugehörigen Jungen zeigte, der auf einem von Menschen getragenen Kanu übers Fußballfeld „paddelte“ und dabei äußerst ungetrübt und zufrieden aussah. Gleichzeitig, und das kam dann selbstverständlich nicht mehr in allen Kanälen, gab es am Ende der Feier einen kleinen Vorfall. Ein ebenfalls einer indigenen Gruppierung angehöriger Junge präsentierte ein beschriftetes Schild, welches indigene Landrechte einforderte. Der Kontrast zwischen diesen beiden (Selbst-)Darstellungen könnte nicht größer sein. Da stellt sich doch die Frage, wie es den indigenen Gruppierungen im brasilianischem Staatsgebiet denn nun wirklich geht? Sind sie glücklicher Teil dieser Gesellschaft oder nur ein Folklore-Accessoire, ein unbequemer Schlag an Menschen, welche sich einfach nicht an Brasilien und dem damit einhergehenden Ordnungsmuster halten wollen?

Auf den ersten Blick wird die indigene Bevölkerung (oder die „Indios“, wie sie in der Mehrheitsgesellschaft immer noch genannt werden) rechtlich immer tiefergehend in die brasilianische Gesellschaft integriert. Dies wurde national durch die neue Verfassung 1982 bewerkstelligt, ein Produkt der Demokratisierungswelle in Lateinamerika, welche auch juristisch die alten Diktaturen und Militärjuntas abzuschütteln vermochte und von dem alten Assimilationsgedanken Abstand nahm. Auch international erkannte man mit der Konvention 169 der Internationalen Arbeiterorganisation 1989 die indigene Bevölkerung Brasiliens als eigenständige Gruppe im Nationalstaat an. Mit der Deklaration der UNO über die Rechte indigener Gruppen wurde dann dem „multikulturellem Zeitalter“ die Krone aufgesetzt. Ausdrücklich setzt man nun auf eine Erhaltung der indigenen Kultur: Von der selbstständigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung über eigene pädagogische Einrichtungen hin bis zu politischer Mitwirkung hörte sich alles so an, als ob diese Indios nun wirklich jeden Grund hätten mit fröhlichem Grinsen im Kanu zu paddeln, sich zurückzulehnen und den gutmütigen Vater Staat doch mal für die eigenen Rechte kämpfen zu lassen.

Die Realität sieht allerdings, wie so oft, ganz anders aus. In Lateinamerika im Allgemeinen und in Brasilien im Besonderen stellen die indigenen Völker die größte benachteiligte Bevölkerungsgruppe dar. In Sachen Lebenserwartung und Einkommen liegen die Indigenen immer noch unter dem Gesamtdurchschnitt. Sie profitieren in geringerem Ausmaß von generellen sozialen Hilfsmaßnahmen und erholen sich langsamer von wirtschaftlichen Krisen. Ganz konkret ist die mediale Aufmerksamkeit auf die Amazonasgebiete gerichtet, welche zu großen Teilen dem den indigenen Gruppen zugesprochenem Land zugehört. Hier ist nicht die größte Bedrohung der Staat, sondern forst- und agrarwirtschaftliche Unternehmen, welche das abgelegene Amazonasgebiet immer wieder unbehelligt vom staatlichen Gewaltmonopol für eigene Interessen nutzen und das Land der Indigenen als existenzielle Grundlage ausbeuten. Teilweise ist der Staat hier auch ein (un)beteiligter Dritter, dem aufgrund des umfassenden Korruptions- und Patronagesystem der Wille zur entschlossenen Intervention oft fehlt. Bei der mythisierenden Darstellung der Problematik der „Ur-Völker“ im bedrohlichen und faszinierenden Amazonasgebiet zugleich, so wie sie die westlichen Medien darstellen, geht eine ganz andere, vielleicht viel akutere Ungerechtigkeit oft einfach unter. Im Gegensatz zur rund der einen Hälfte der Ureinwohner Brasiliens, welche über 98,5% des offiziell der indigenen Gruppen zugesprochenem Gebiet verfügen, wohnt die andere Hälfte vornehmlich im Süden Brasiliens, ohne die Garantie von eigenem Land. Diese Menschen, welche sich durch eine integrale Verbundenheit zur ihrer natürlichen Umgebung definieren (so gibt es in vielen indigenen Ur-Sprachen keine Unterscheidung von Kultur/Natur, Mensch/Pflanze etc.) werden in die Slums der Großstädte gedrängt und dort ihrem Schicksal überlassen.

Wie können wir die paradoxe Situation, wenn nicht lösen, dann vielleicht einordnen? Wie kann man Abhilfe schaffen, dass weitreichende und verbindliche Rechtskonstitutionen offensichtlich im krassen Wiederspruch zur realen und alltäglichen Situation der Indigenen stehen? Denn wie wir schon aus der (post-)kolonialen Geschichte heraus ahnen können, sehen die wahren Verhältnisse doch ganz anders aus. Man bietet „den“ Indigenen dort die Gastfreundschaft an, wo man eigentlich selbst Gast ist. Freilich ein ungeladener Gast, der gekommen ist um zu bleiben. Es muss hier um eine grundlegende Veränderung der Einstellungen gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen gehen. Um Ernst-haftigkeit, ehrliches Interesse und wahre Toleranz. Um eine Um-Schreibung der offiziellen brasilianischen Nationalgeschichte, die nur allzu gern die nationale Unabhängigkeit von Portugal feiert, dabei aber vergisst, dass man selbst manchmal als ungebetener Kolonist gesehen wird. Doch wer den Staat Brasilien rückgängig machen will, lebt in einer fantastischen Wunderwelt. Es muss um eine Neu-Definition von Staat gehen, welche nicht ausschließt was eigentlich ihr inneres ist. Es geht um eine gesellschaftliche Anerkennung, nicht von den Indigenen, sondern von den Guarani, Kaingang, Yanomami und ca. 205 weiteren Völkern, die sich aneinander so sehr ähneln (oder auch nicht), wie die Brasilianer den Portugiesen.

Vortragsprotokoll von Georg Grünberg (emeritierter Anthropologe mit Forschungsschwerpunkt Lateinamerika) zur Lage der indigenen Bevölkerung in Brasilien: http://www.pfz.at/article1513.htm

Analyse der Situation von Indigenen in Lateinamerika insgesamt (GIGA-Institut für Lateinamerikastudien): http://www.giga-hamburg.de/de/system/files/publications/gf_lateinamerika_1008.pdf

Über den Konflikt im Amazonsasgebiet: http://www.theguardian.com/world/2014/jan/07/brazil-indigenous-rights-activists-hail-illegal-settlers-eviction und http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/may/29/brazil-indigenous-people-violates-rights

 

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