„Rettet unsere Jungs!“

Nachdem Ende letzter Woche drei jugendliche Israelis im Westjordanland entführt wurden, ist der Nahe Osten um einen eskalierenden nationalen Krisenherd reicher. Ministerpräsident Netanjahu macht die Hamas verantwortlich, diese distanziert sich. Doch wer steckt hinter der Geschehnissen? Wer könnte Vorteile daraus ziehen? Und welche Auswirkungen haben die Ereignisse auf das nationale Selbstbild der Israelis?

 

Ausgangssperre. Blockade. Der Ring des israelischen Militärs um Hebron zieht sich zusammen. Auch in andere Städte in der Westbank ist einmarschiert worden. Zustände wie man sie seit der 2002 gestarteten „Operation Defensive Shield“, der Wiederbesetzung weiter Teile der Palästinensergebiete, nicht mehr kannte. Im Zentrum des grade aufbrausenden Orkans befinden sich drei jüdische Jungen:

 

Eyal Yifrah (19), Gilad Shaer (16) und Naftali Frenkel (16) wurden gegen Ende letzter Woche, höchstwahrscheinlich während sie in der Nähe Hebrons versuchten zu trampen, von bislang Unbekannten entführt. Jedoch sind bislang weder Forderungen aufgetaucht, noch hat sich eine bestimmte Organisation zu der Entführung bekannt.

 

Für die israelische Regierung ist der Schuldige klar: Hamas stecke hinter der Entführung, da gebe es keine Zweifel, so Premierminister Netanjahu. Die Beweise dafür bleibt er bislang schuldig. Diese werden im geheimen ausgewertet.

 

Für Netanjahu kommt die Entführung wie gerufen. Angesichts wachsender Erfolge der BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) Kampagne, den ungewöhnlich drastischen Schuldzuschreibungen an die Adresse Israels in Bezug auf das Scheitern der jüngsten Friedensgespräche von Seiten des US-Sondergesandten John Kerry und der (zumindest bis jetzt) erfolgreich verlaufenden Versöhnung der verfeindeten Palästinenserfraktionen, Hamas und Fatah, wäre ein taktischer Sieg für Netanjahu bitter nötig. Jetzt kann er der Welt predigen, dass die auch von den meisten westlichen Staaten anerkannte neue Palästinenserregierung, eine Regierung des Terrors ist.

 

Und so machen sich Armee und Geheimdienst in den letzten Tagen daran das Westjordanland mit Razzien bisher unbekannten Ausmaßes zu überziehen. Nahezu die gesamte Führungsebene der Hamas wurde bereits festgenommen, eine Tatsache, welche auch zu einer massiven politischen Schwächung der Organisation angesichts den bevorstehenden Wahlen führen wird. Schon jetzt gehen israelische Analyst*innen davon aus, dass Netanjahu die Gelegenheit, welche sich ihm bietet auch insofern nutzt, als das die gegenwärtigen Razzien weit über den Kreis der Personen hinausgehen, welche mit der Entführung etwas zu tun haben könnten. Einiges deutet darauf hin, dass es Netanjahu vielmehr um die langfristige Schwächung, wenn nicht Zerstörung der gesamten Infrastruktur der Hamas im Westjordanland geht.

 

Auch innenpolitisch verschwinden die bestehenden Zerwürfnisse. Man hört auf zu streiten und sammelt sich wieder um einen zunehmend aggressivere Töne anschlagenden nationalen Konsens. Unter dem hashtag „#saveourboys“ läuft derzeit eine der noch geschmackvolleren Ausdrücke der neuen Kollektivität. Man muss aber auch nicht lange suchen, um üblere Beispiele zu finden für das, was die Stärkung des kollektiven Nationalgefühls so hervorbringt. Die facebook-seite „Bis die Jungs zurückkommen – Jede Stunde erschießen wir einen Terroristen“ hat mittlerweile 19.000 Likes. Die Kommentarfunktion ist nur etwas für Hartgesottene. Jüdische Nationalist*innen ergehen sich in Gewaltfantasien wer den am besten als erstens „aus dem Weg geräumt“ werden soll, aufgebrachte Araber und Muslime antworten mit antisemitischen Verschwörungstheorien.

 

Als die Knesset Abgeordnete Hanin Zoabi sich erlaubte, auf die Realität der israelischen Besatzung als Kontext der Entführung hinzuweisen, war von Außenminister Lieberman in Bezug darauf nur zu hören: „Das Schicksal eines Terroristen und das eines Anstifters zum Terror sollte das gleiche sein.“ Der Außenminister eines Staates ruft de-facto zum Mord an einer Abgeordneten auf.

 

Im außenpolitischen Kontext scheint es wiederum, als wäre diese Entführung der einzige Stolperstein, an welchem eine langfristige Integration der Hamas in die Strukturen des Friedensprozesses noch scheitern könnte. Den Aussagen palästinensischer Verhandlungsteilnehmer zufolge hat die Hamas, mit ihrer Unterzeichnung des Versöhnungsabkommens nämlich implizit auch die Richtlinien des Westens anerkannt: Anerkennung Israels, Respektierung des Oslo Abkommens, Ende der Gewalt.

 

Intern findet sich die Hamas jedoch in einer politisch geschwächten Position wieder. Nach der Distanzierung vom Assad Regime ist das Verhältnis zum Iran deutlich abgekühlt und auch die Militärregierung in Ägypten steht den Islamist*innen deutlich feindseliger gegenüber als noch Mursi dies tat. Des weiteren scheinen im Zuge der letzten Jahre zunehmend Geldgeber vom Golf, allen voran das Emirat Qatar die iranische Unterstützung zu kompensieren. All diese Faktoren könnten Hamas in eine moderatere Richtung drängen, zumindest waren sie definitiv ausschlaggebender Faktor für die Bildung der jetzigen Übergangsregierung.

 

Diese Lesart der politischen Entwicklungen legt aber auch nahe, dass die Hamas im Moment kein Interesse an einer Eskalation haben kann. Dennoch sprechen viele Indizien für eine Beteiligung der Islamist*innen, allen voran die äußerste Professionalität mit welcher die Entführung durchgeführt wurde. Außerdem wurden die Anschuldigungen Netanjahus bislang zwar dementiert aber nur recht halbherzig. „Dumm“, seien die Aussagen des israelischen Premier, so ein Hamas Sprecher. Ein eindeutiges Dementi klingt anders.

 

Das die Hamas jedoch planvoll und gezielt versuchen würde, den von ihr selbst mitinitiierten Prozess palästinensischer Versöhnung zu torpedieren erscheint nicht rational. Sollte die Hamas tatsächlich in die Entführung verwickelt sein, liegt der Verdacht nahe, dass sich innerhalb der Organisation eine gewisse Eigendynamik entwickelt hat. Möglicherweise könnten regionale Hamas Zellen, die der Versöhnung skeptisch gegenüberstehen, auf eigene Initiative gehandelt haben. Wohl wissend, dass die Führung sich unmöglich von einer solchen Aktion distanzieren könnte. In der Vergangenheit haben Hamas Führer stets dazu aufgerufen und ihre Anhänger*innen auch militärisch dazu ausgebildet, Israelis zu entführen. Nun scheinen die Pläne, die dazu in der Schublade lagen, von einigen Militanten eigenhändig umgesetzt worden zu sein. Mit bis dato unabsehbaren Konsequenzen.


Haaretz Live Ticker zu den Ereignissen

Die linke Nachrichtenplatform „972“ über Netanjahus Strategie

Amos Harel über die Professionalität des Vorgehens

 „Bis die Jungs zurückkommen – Jede Stunde erschießen wir einen Terroristen“ עד שהנערים חוזרים – בכל שעה במחבל יורים

 

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Eine Antwort zu „Rettet unsere Jungs!“

  1. Jakaranda schreibt:

    Gut formulierter und gut recherchiert er Artikel. Im Zuge der WM und des Sieges der deutschen Mannschaft geht diese Nachricht ziemlich unter. Es wird vergessen, wie es, nicht nur,im nahen Osten brodelt. Immer wieder unschuldige Menschen zu benutzen, um Macht zu demonstrieren und Unruhe zu stiften, verurteile ich .

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